Die Natur als Vorbild: Effektiv CO2 einsparen durch die bestmögliche Anpassung

Professor Dr.-Ing. Stefan Niessen, Head of Technology Field bei Siemens, im Gespräch über aktuelle Herausforderungen und darüber, wie ein digitaler Zwilling bei der CO2-Einsparung helfen kann.
Professor Dr.-Ing. Stefan Niessen, Head of Technology Field bei Siemens, im Gespräch über aktuelle Herausforderungen und darüber, wie ein digitaler Zwilling bei der CO2-Einsparung helfen kann.
Donnerstag, 19. Mai 2022

Siemens ist in diesem Jahr mit einer Vielzahl von Programmpunkten bei der Langen Nacht der Wissenschaften vertreten. Einer davon: „Digital dekarbonisieren – effektiv CO2 vermeiden“. Dekarbonisierung bedeutet ja erst einmal die Umstellung einer Wirtschaftsweise, speziell der Energiewirtschaft, in Richtung eines niedrigeren Umsatzes von Kohlenstoff. Wie kommt hier der digitale Aspekt ins Spiel?

Das Thema ist sehr komplex, aber zur Anschauung ein Beispiel: In meinem Team bei Siemens Technology entwickeln wir digitale Zwillinge der Energieversorgungssysteme von Gebäuden, Fabriken oder Städten. Diese digitalen Zwillinge beinhalten sämtliche für die Auslegung der Energiesysteme   Informationen, wie die technischen und wirtschaftlichen Eigenschaften der einzelnen Komponenten, und Informationen dazu, wie diese miteinander gekoppelt werden können. Besonders wichtig sind auch die Lastgänge der zukünftigen Strom-, Wärme- und Kühlungsbedarfe. Mithilfe dieser digitalen Zwillinge entwickeln wir Pläne für deren Umbau bis zur CO2-Freiheit. Durch den Vergleich dieser Pläne mit dem aktuellen Stand lässt sich bereits heute überprüfen, ob die ersten notwendigen Maßnahmen auch tatsächlich ergriffen werden.  

Wie sieht dieser Prozess bei Siemens aus?

Das Verfahren des digitalen Zwillings wenden wir bei Siemens auch auf unsere eigenen Fertigungsstandorte an, denn mit dem DEGREE-Programm haben wir uns das Ziel gesetzt, bis 2030 CO2-neutral zu werden. Dies bedeutet in dreifacher Hinsicht eine Verpflichtung, denn bis 2030 sollen alle Siemens-Gebäude klimaneutral, die gesamte Fahrzeugflotte elektrisch und der gesamte Stromverbrauch aus erneuerbaren Quellen sein. Für unser Werk in Amberg haben wir zum Beispiel einen Dekarbonisierungspfad entwickelt, der nun konsequent umgesetzt wird.

Wie kann man als Unternehmen effektiv CO2 vermeiden?

Dafür gibt es nicht eine Wundertechnologie, allerdings sehr wohl ein Patentrezept. Wie in der Natur auch sieht der beste Maßnahmenmix für jeden Standort etwas anders aus. Die Natur bringt Ökosysteme hervor, die für jeden Standort optimal angepasst sind und sich evolutionär entwickeln. Genau dieses Muster nehmen wir uns zum Vorbild, wenn wir Methoden für die Auslegung der Energieversorgungssysteme für größere Wohngebäude, öffentliche Gebäude, Industriestandorte, Städte oder Regionen entwickeln. Mit Hilfe digitaler Optimierungsverfahren ermitteln wir die jeweils beste Kombination von Technologien zur Bereitstellung von Strom, Wärme, Kühlung, Trinkwasser, Antriebsenergie. Unter Berücksichtigung von technischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt Umwelteigenschaften sowie der Resilienz verschiedenster Energiekomponenten schneidern wir auf Maß für den jeweiligen Standort die am besten geeignete Kombination. 

Eine weitere Veranstaltung bei der Langen Nacht der Wissenschaften beschäftigt sich mit Klimaschutz als Verantwortung und Chance – wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen bei der Energiewende?

Die Herausforderungen sind grundsätzlich seit vielen Jahren die gleichen. Die Einsicht in die Notwendigkeit, unabhängiger von russischen Gaslieferungen zu werden, erhöht nun den Druck. Die Herausforderungen formuliert das energiewirtschaftliche Dreieck: Umweltverträglichkeit, Kosteneffizienz und Versorgungssicherheit. Aktuell wird unser Bewusstsein dafür geschärft, dass die Versorgungssicherheit keine Selbstverständlichkeit ist. Angesichts der rasant steigenden Energiepreise kommt noch eine vierte Herausforderung dazu: die gesellschaftliche Akzeptanz. Welcher Anteil der Bevölkerung ist in der Lage, eine Verdreifachung der Energiepreise zu verkraften? Hier stellen sich Umverteilungsfragen – ein klassisches Betätigungsfeld der Politik. Die Herausforderungen sind gewaltig. Mit unseren Methoden und unserer Kompetenz wollen wir dazu beitragen, dass die am besten passende Technik zum Einsatz kommt und so Ineffizienzen vermieden werden.

 

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